Der Bürgermeister-Mord in Kaltern

Die NEUE SÜDTIROLER TAGESZEITUNG über den Bürgermeister-Mord in Kaltern (2005)

Im November 1946 wurde der Kalterer Bürgermeister Attilio Petri mit einem Holzknüppel erschlagen. Es war dies der erste Polit-Kriminalfall im Nachkriegs-Südtirol. Der Mordfall konnte sieben Jahre später aufgeklärt werden – dank eines epileptischen Anfalls, den einer der Mittäter erlitt.

Als ihr Vater um 19.30 Uhr noch immer nicht zu Hause war, beschloss Amelia Petri- Gentile, ihm entgegenzugehen. Attilio Petri, der Bürgermeister von Kaltern, war am 11. November 1946 nach Bozen gefahren. Dienstlich. Petri, 1875 in Serso bei Pergine geboren und seit Jahrzehnten in Kaltern ansässig, wollte an jenem Montag mit dem vorletzten Zug der Überetscher Bahn, der um 18.50 Uhr in Kaltern ankommt, zurückkehren. Beunruhigt über die Verspätung ihres Vaters, verließ die Tochter des Bürgermeisters die am oberen Ende des wenig begangenen Gunganoweges gelegene Villa Petri und ging in Richtung Bahnhof. Es war bereits dunkel. Über die makabre Entdeckung, die Amelia Petri- Gentile kurz darauf machte, berichtete seinerzeit die Tageszeitung „Dolomiten“: „Nach etwa 100 Metern stieß sie in der Dunkelheit in der Nähe der Bahnstrecke Kaltern-St. Anton am Straßenrand auf ihren Vater, aber wie sah der Bedauernswerte aus: schreckliche Wunden im Gesicht und am Hinterkopf verrieten auf den ersten Blick, dass hier ein schweres Verbrechen geschehen war.“ Attilio Petri war bewusstlos, als der Kalterer Gemeindearzt, Gottlieb Hassl, am Tatort eintraf. Der Bürgermeister wurde in seine Villa gebracht, wo er kurz darauf verschied.

Die gerichtliche Nachstellung der Bluttat: Schlag gegen den Kopf

Der Gemeindearzt stellte fest, dass der Bürgermeister „mit einem dumpfen Körper durch wenigstens zwei wuchtige Hiebe getötet worden“ sei. Die Tatwaffe: Ein etwa einen Meter langer, dicker Buchenknüppel, drei Kilogramm schwer. Einen Raubmord schlossen die Behörden aus. Der Bürgermeister trug Bargeld und Dokumente bei sich. Der Bürgermeister-Mord in Kaltern sollte sich zum ersten Polit- Kriminalfall in der Südtiroler Kriminalgeschichte ausweiten. Die Ermittler gingen von einer Tat mit politischem Hintergrund aus. Eine Woche vor dem Mord war es in Kaltern zu einem mysteriösen Fahnenraub gekommen. Der 4. November 1946 war ein Staatsfeiertag: Bürgermeister Petri hatte am Rathaus die Trikolore hissen lassen. Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete über den Fahnenraub wie folgt: „Sieben junge Burschen zogen die Fahne ein und entführten sie. Die Behörde stellte eine Untersuchung an und erließ Haftbefehle: die Schuldigen flüchteten. Im Orte selber herrschte, wenn man sich die gespannte politische Atmosphäre jener Tage vor Augen führt, eine gewisse Erregung, besonders unter der Jugend.“ Die Sicherheitsbehörden machten fünf Jugendliche aus dem Ort für den Fahnenraub verantwortlich. Ihre Namen laut Carabinieri-Protokoll: „Geier Alfonso, Giuseppe Tschimben, Giuseppe Pichler, Giovanni Gasser, Carlo Giovanazzi, Antonio Kofler, Francesco Morandell.“ Unter diesen jungen Männern, die allesamt in der Kellerei des Georg Baron di Pauli beschäftigt waren, vermuteten die Ermittler den oder die Täter im Mordfall Petri. Die Burschen gestanden den Fahnenraub. Doch die Verdachtsmomente im Mordfall ließen sich nicht erhärten, die Tatverdächtigen wurden am 29. November 1946 wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Staatsanwaltschaft legte das Faszikel im Archiv ab. Der Mord am Kalterer Bürgermeister schien ein ungeklärtes Verbrechen bleiben.

Albert Seppi, Rudolf Sölva und Karl Tomaser: Aufklärung nach sieben Jahren

Die Wende kam sieben Jahre später mit einem epileptischen Anfall. Im April 1953 erlitt der 28-jährige Bauer Karl Thomaser aus Kaltern einen epileptischen Anfall. Einem Bekannten gegenüber, der ihn versorgte, machte Thomaser „dunkle Andeutungen“ (so die Tageszeitung „Dolomiten“) und nannte den Namen des Täters. Der Bekannte informierte umgehend die Sicherheitsbehörden. Diese nahmen Karl Thomaser fest. Und im Verlauf der ersten Vernehmung packte der junge Bauer aus. Der Succus des Geständnisses: Am 11. November hatte in Girlan der Martinimarkt stattgefunden. Auch viele Kalterer waren nach Girlan gefahren, darunter Albert Seppi und Karl Thomaser. Die beiden jungen Männer hatten „reichlich dem Weine zugesprochen“ (so die Tageszeitung „Dolomiten“) und wollten mit der Bahn nach Kaltern fahren. Als Albert Seppi im Waggon den Kalterer Bürgermeister Attilio Petri bemerkte, sagte er zu seinem Freund Karl Thomaser: „Man müsste dem Petri wegen seiner Anzeige des Fahnenraubs eine Lektion erteilen, heute wäre die Gelegenheit günstig.“ Nach der Ankunft in Kaltern holte sich Andreas Seppi, 22 Jahre, sein in einem Privathaus abgestelltes Fahrrad. In der Folge gingen Seppi und Thomaser in Richtung Ortszentrum. Auf dem Wege stieß Rudolf Sölva, damals 24, zu ihnen. Sölva war an jenem Abend eigentlich in friedlicher Mission unterwegs. Denn nach dem Fahnenraub hatte Baron Georg Di Pauli alles daran gesetzt, den ethnopolitischen Frieden in der Marktgemeinde wieder herzustellen. Deswegen hatte er für den darauf folgenden Tag, den 12. November 1946, einer Versammlung mit den Kriegs-Heimkehrern angesetzt. Di Pauli hatte sich zuvor an die Landesleitung der SVP gewandt und um die Entsendung eines Redners gebeten, der „die Kalterer Jugend von weiteren Unbesonnenheiten abhalten sollte“. Als Gastredner in Kaltern war Friedl Volgger vorgesehen. Als die drei Burschen zur Finanzkaserne gelangten, bemerkten sie den Bürgermeister, der mit dem Maresciallo sprach und sich daraufhin auf den Heimweg machte. Den eigentlichen Hergang der Bluttat rekonstruierte die Tageszeitung „Dolomiten“ so: „Auf einmal sonderte sich Albert Seppi ab und ging über einen links am Gunganoweg und später wieder in diesem mündenden Abkürzungsweg voraus, ohne dass die beiden Begleiter den Zweck wussten. Von einem am Wegrand stehenden Holzstoß nahm Seppi den Buchenknüttel auf und überholte durch die Abkürzung den Bürgermeister, der langsam seiner Villa zuschritt.

Ein Verhörprotokoll: Epileptischer Anfall als Kommissar Zufall

In der Nähe der Bahnüberführung passte nun Seppi den alten Mann ab, fasste ihn in blinder Erregung mit der Linken am Mantelkragen, um ihm mit dem Buchenknüppel, den er in der Rechten trug, auf den Rücken zu schlagen. Ingenieur Petri stürzte aber zu Boden und machte dabei, wie Seppi behauptete, eine Gesichtswendung, so dass ihn der Prügel statt im Genick mit voller Wucht im Gesichte traf..“ Im Prozess, der im Spätherbst 1953 am Landesgericht in Bozen begann, sagte Albert Seppi aus: „Nun, als ich Ingenieur Petri blutüberstr.mt und bewusstlos am Boden liegen sah, wurde mir erst voll Entsetzen bewusst, was ich angestellt hatte, und vor Schreck war ich plötzlich völlig nüchtern geworden.“ Albert Seppi ergriff die Flucht, rannte Richtung Marktplatz, wo er einem Bekannten noch zurief: „Ich hab’s getan!“ Die Burschen kamen überein, über das Vorgefallene zu schweigen – und hielten sich sieben Jahre lang daran. Bis zum epileptischen Anfall des Karl Thomaser. Vor Gericht erklärten Seppi, Thomaser und Sölva, dass sie „an der entsetzlichen Gewissenslast, die immer ärger drückte, schwer getragen“ hätten und dass es ihnen „eine seelische Erleichterung bedeutete, als der Stein ins Rollen kam und sie endlich das Geheimnis der Unglücksnacht enthüllten“. Der Schwurgerichtsprozess kreiste denn auch um die Frage: War es Totschlag? Oder war es Mord? Die Fronten waren klar: Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord, währenddem die Verteidiger auf Totschlag plädierten und sich dabei auf die Aussagen des Hauptangeklagten Albert Seppi stützten, der immer wieder versicherte, dass ihm die Tötungsabsicht ferngelegen habe. Dem Vorsitzenden Richter, Leone Borzaga, war es gelungen, während des gesamten Beweisaufnahmeverfahrens, die Politik aus dem Gerichtssaal zu verbannen.

Doch am Ende bekam der Schwurgerichtsprozess doch eine politische Konnotation. Der 3. Juli 1954, ein Samstag, war der Tag X. Bereits am Morgen, zu Beginn des letzten Prozesstages, war der Zuschauerraum im Gerichtssaal überfüllt. Viele Überetscher wollten die alles entscheidenden Stunden live miterleben. Staatsanwalt Faustino Dell’Antonio beantragte exemplarische Freiheitsstrafen: 26 Jahre für Albert Seppi, 13 Jahre für Karl Thomaser, 12 Jahre für Rudolf Sölva. Es war dann Luis Sand, der für die Angeklagten die Kohlen aus den Feuer holen sollte. Von dem Auftritt des späteren SVP-Senators war der „Dolomiten“-Berichterstatter sehr angetan und ließ dies seine Leser auch wissen. Ein Auszug aus dem Artikel: „Dann war Advokat Luis Sand an der Reihe. Wenn seitens der Anklage gegen die einheimische Bevölkerung der Vorwurf der Intoleranz erhoben werde, dürfe man nicht vergessen, was dieses Volk in den 20 Jahren übler Regierung mitgemacht habe; Advokat Sand erwähnte ein Beispiel aus seiner eigenen Praxis, da er selbst eine Südtiroler Mutter verteidigte, die man ins Gefängnis schickte, weil sie für ihre drei Kinder eine Gouvernante aufgenommen hatte, die den Kindern die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens in ihrer Muttersprache beibringen sollte. Nur zu gerne gehe man bewusst über die vorangegangenen 20 Jahre schweigend hinweg, jenen Zeitabschnitt, in den auch die Jugend der drei Angeklagten fällt, die man zu Unrecht des Mordes bezichtigte. Ein klarer Mord war in diesem Zeitabschnitt, als der Südtiroler Lehrer Franz Innerhofer, der zwei Kinder in Sicherheit bringen wollte, durch Pistolenschüsse aus dem Hinterhalt fiel.

Dem müsse entgegengehalten werden, dass der von Seppi verübte Totschlag, so verabscheuungswürdig die Tat auch sei, die einzige politische Bluttat darstelle, die seit der Zugehörigkeit Südtirols zu Italien seitens eines Südtirolers gegen einen Angehörigen der italienischen Volksgruppe verübt wurde.“ Um 22.20 Uhr erging das im ganzen Land mit großer Spannung erwartete Urteil: Albert Seppi und Karl Thomaser wurden im Sinne der Anklage des Mordes schuldig gesprochen, wobei für beide der erschwerende Umstand des Vorsatzes ausgeschlossen und die allgemeinen Milderungsumstände zugelassen wurden. Albert Seppi wurde zu 14 Jahren „schwerem Kerker“ verurteilt, Karl Thomas zu neun Jahren und vier Monate, wobei sich die Strafen unter Anwendung verschiedener Amnestien und im Wege des Strafnachlasses für Seppi auf fünf Jahre und vier Monate und für Thomaser auf zwei Jahre, zwei Monate und 20 Tage reduzierte. Rudolf Sölva wurde von der Anklage auf Beihilfe zum Mord aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Während die Tageszeitung „Alto Adige“ von einem „milden Urteil“ sprach, ließ die Tageszeitung „Dolomiten“ das Urteil unkommentiert. Im Bericht über den Prozessepilog hieß es: „Als dann der Gerichtshof aus dem Beratungszimmer zurückkehrte, war die allgemeine Stimmung auf das Höchste gestiegen. Das Urteil (…) wurde sowohl von den Angeklagten wie auch vom Publikum ohne äußerlich sichtbare Anteilnahme aufgenommen, allerdings anschließend, als sich der Saal leerte, am Heimweg noch erregt besprochen.“

Die großen Kriminalfälle I

edition AROB

Es war der Krimi-Knüller des Jahres 2005: Im ersten Band der Reihe „Die großen Kriminalfälle” des 20. Jahrhunderts in Südtirol rekonstruiert Artur Oberhofer acht spektakuläre Verbrechen: Vom Bürgermeister-Mord in Kaltern (1946) über die Giftmorde von Klausen und St. Lorenzen in den 1960er-Jahren bis hin zum Aufsehen erregenden Mädchen-Mord von Blumau (Fall Rosa Pichler, 1970).
Krimi-Spannung pur!
Das Buch „Die großen Kriminalfälle” ist bereits in vierter Auflage erschienen und war monatelang in den Südtiroler Bestsellerlisten.

ISBN 88-88396-06-3
Hardcover – 336 Seiten
Preis Italien: 27,00 Euro
Preis Ausland (D-A-CH): 28,00 Euro

Der Bürgermeister-Mord in Kaltern

Die NEUE SÜDTIROLER TAGESZEITUNG über den Bürgermeister-Mord in Kaltern (2005)

Im November 1946 wurde der Kalterer Bürgermeister Attilio Petri mit einem Holzknüppel erschlagen. Es war dies der erste Polit-Kriminalfall im Nachkriegs-Südtirol. Der Mordfall konnte sieben Jahre später aufgeklärt werden – dank eines epileptischen Anfalls, den einer der Mittäter erlitt.

Als ihr Vater um 19.30 Uhr noch immer nicht zu Hause war, beschloss Amelia Petri- Gentile, ihm entgegenzugehen. Attilio Petri, der Bürgermeister von Kaltern, war am 11. November 1946 nach Bozen gefahren. Dienstlich. Petri, 1875 in Serso bei Pergine geboren und seit Jahrzehnten in Kaltern ansässig, wollte an jenem Montag mit dem vorletzten Zug der Überetscher Bahn, der um 18.50 Uhr in Kaltern ankommt, zurückkehren. Beunruhigt über die Verspätung ihres Vaters, verließ die Tochter des Bürgermeisters die am oberen Ende des wenig begangenen Gunganoweges gelegene Villa Petri und ging in Richtung Bahnhof. Es war bereits dunkel. Über die makabre Entdeckung, die Amelia Petri- Gentile kurz darauf machte, berichtete seinerzeit die Tageszeitung „Dolomiten“: „Nach etwa 100 Metern stieß sie in der Dunkelheit in der Nähe der Bahnstrecke Kaltern-St. Anton am Straßenrand auf ihren Vater, aber wie sah der Bedauernswerte aus: schreckliche Wunden im Gesicht und am Hinterkopf verrieten auf den ersten Blick, dass hier ein schweres Verbrechen geschehen war.“ Attilio Petri war bewusstlos, als der Kalterer Gemeindearzt, Gottlieb Hassl, am Tatort eintraf. Der Bürgermeister wurde in seine Villa gebracht, wo er kurz darauf verschied.

Die gerichtliche Nachstellung der Bluttat: Schlag gegen den Kopf

Der Gemeindearzt stellte fest, dass der Bürgermeister „mit einem dumpfen Körper durch wenigstens zwei wuchtige Hiebe getötet worden“ sei. Die Tatwaffe: Ein etwa einen Meter langer, dicker Buchenknüppel, drei Kilogramm schwer. Einen Raubmord schlossen die Behörden aus. Der Bürgermeister trug Bargeld und Dokumente bei sich. Der Bürgermeister-Mord in Kaltern sollte sich zum ersten Polit- Kriminalfall in der Südtiroler Kriminalgeschichte ausweiten. Die Ermittler gingen von einer Tat mit politischem Hintergrund aus. Eine Woche vor dem Mord war es in Kaltern zu einem mysteriösen Fahnenraub gekommen. Der 4. November 1946 war ein Staatsfeiertag: Bürgermeister Petri hatte am Rathaus die Trikolore hissen lassen. Die Tageszeitung „Dolomiten“ berichtete über den Fahnenraub wie folgt: „Sieben junge Burschen zogen die Fahne ein und entführten sie. Die Behörde stellte eine Untersuchung an und erließ Haftbefehle: die Schuldigen flüchteten. Im Orte selber herrschte, wenn man sich die gespannte politische Atmosphäre jener Tage vor Augen führt, eine gewisse Erregung, besonders unter der Jugend.“ Die Sicherheitsbehörden machten fünf Jugendliche aus dem Ort für den Fahnenraub verantwortlich. Ihre Namen laut Carabinieri-Protokoll: „Geier Alfonso, Giuseppe Tschimben, Giuseppe Pichler, Giovanni Gasser, Carlo Giovanazzi, Antonio Kofler, Francesco Morandell.“ Unter diesen jungen Männern, die allesamt in der Kellerei des Georg Baron di Pauli beschäftigt waren, vermuteten die Ermittler den oder die Täter im Mordfall Petri. Die Burschen gestanden den Fahnenraub. Doch die Verdachtsmomente im Mordfall ließen sich nicht erhärten, die Tatverdächtigen wurden am 29. November 1946 wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Staatsanwaltschaft legte das Faszikel im Archiv ab. Der Mord am Kalterer Bürgermeister schien ein ungeklärtes Verbrechen bleiben.

Albert Seppi, Rudolf Sölva und Karl Tomaser: Aufklärung nach sieben Jahren

Die Wende kam sieben Jahre später mit einem epileptischen Anfall. Im April 1953 erlitt der 28-jährige Bauer Karl Thomaser aus Kaltern einen epileptischen Anfall. Einem Bekannten gegenüber, der ihn versorgte, machte Thomaser „dunkle Andeutungen“ (so die Tageszeitung „Dolomiten“) und nannte den Namen des Täters. Der Bekannte informierte umgehend die Sicherheitsbehörden. Diese nahmen Karl Thomaser fest. Und im Verlauf der ersten Vernehmung packte der junge Bauer aus. Der Succus des Geständnisses: Am 11. November hatte in Girlan der Martinimarkt stattgefunden. Auch viele Kalterer waren nach Girlan gefahren, darunter Albert Seppi und Karl Thomaser. Die beiden jungen Männer hatten „reichlich dem Weine zugesprochen“ (so die Tageszeitung „Dolomiten“) und wollten mit der Bahn nach Kaltern fahren. Als Albert Seppi im Waggon den Kalterer Bürgermeister Attilio Petri bemerkte, sagte er zu seinem Freund Karl Thomaser: „Man müsste dem Petri wegen seiner Anzeige des Fahnenraubs eine Lektion erteilen, heute wäre die Gelegenheit günstig.“ Nach der Ankunft in Kaltern holte sich Andreas Seppi, 22 Jahre, sein in einem Privathaus abgestelltes Fahrrad. In der Folge gingen Seppi und Thomaser in Richtung Ortszentrum. Auf dem Wege stieß Rudolf Sölva, damals 24, zu ihnen. Sölva war an jenem Abend eigentlich in friedlicher Mission unterwegs. Denn nach dem Fahnenraub hatte Baron Georg Di Pauli alles daran gesetzt, den ethnopolitischen Frieden in der Marktgemeinde wieder herzustellen. Deswegen hatte er für den darauf folgenden Tag, den 12. November 1946, einer Versammlung mit den Kriegs-Heimkehrern angesetzt. Di Pauli hatte sich zuvor an die Landesleitung der SVP gewandt und um die Entsendung eines Redners gebeten, der „die Kalterer Jugend von weiteren Unbesonnenheiten abhalten sollte“. Als Gastredner in Kaltern war Friedl Volgger vorgesehen. Als die drei Burschen zur Finanzkaserne gelangten, bemerkten sie den Bürgermeister, der mit dem Maresciallo sprach und sich daraufhin auf den Heimweg machte. Den eigentlichen Hergang der Bluttat rekonstruierte die Tageszeitung „Dolomiten“ so: „Auf einmal sonderte sich Albert Seppi ab und ging über einen links am Gunganoweg und später wieder in diesem mündenden Abkürzungsweg voraus, ohne dass die beiden Begleiter den Zweck wussten. Von einem am Wegrand stehenden Holzstoß nahm Seppi den Buchenknüttel auf und überholte durch die Abkürzung den Bürgermeister, der langsam seiner Villa zuschritt.

Ein Verhörprotokoll: Epileptischer Anfall als Kommissar Zufall

In der Nähe der Bahnüberführung passte nun Seppi den alten Mann ab, fasste ihn in blinder Erregung mit der Linken am Mantelkragen, um ihm mit dem Buchenknüppel, den er in der Rechten trug, auf den Rücken zu schlagen. Ingenieur Petri stürzte aber zu Boden und machte dabei, wie Seppi behauptete, eine Gesichtswendung, so dass ihn der Prügel statt im Genick mit voller Wucht im Gesichte traf..“ Im Prozess, der im Spätherbst 1953 am Landesgericht in Bozen begann, sagte Albert Seppi aus: „Nun, als ich Ingenieur Petri blutüberstr.mt und bewusstlos am Boden liegen sah, wurde mir erst voll Entsetzen bewusst, was ich angestellt hatte, und vor Schreck war ich plötzlich völlig nüchtern geworden.“ Albert Seppi ergriff die Flucht, rannte Richtung Marktplatz, wo er einem Bekannten noch zurief: „Ich hab’s getan!“ Die Burschen kamen überein, über das Vorgefallene zu schweigen – und hielten sich sieben Jahre lang daran. Bis zum epileptischen Anfall des Karl Thomaser. Vor Gericht erklärten Seppi, Thomaser und Sölva, dass sie „an der entsetzlichen Gewissenslast, die immer ärger drückte, schwer getragen“ hätten und dass es ihnen „eine seelische Erleichterung bedeutete, als der Stein ins Rollen kam und sie endlich das Geheimnis der Unglücksnacht enthüllten“. Der Schwurgerichtsprozess kreiste denn auch um die Frage: War es Totschlag? Oder war es Mord? Die Fronten waren klar: Die Anklage lautete auf vorsätzlichen Mord, währenddem die Verteidiger auf Totschlag plädierten und sich dabei auf die Aussagen des Hauptangeklagten Albert Seppi stützten, der immer wieder versicherte, dass ihm die Tötungsabsicht ferngelegen habe. Dem Vorsitzenden Richter, Leone Borzaga, war es gelungen, während des gesamten Beweisaufnahmeverfahrens, die Politik aus dem Gerichtssaal zu verbannen.

Doch am Ende bekam der Schwurgerichtsprozess doch eine politische Konnotation. Der 3. Juli 1954, ein Samstag, war der Tag X. Bereits am Morgen, zu Beginn des letzten Prozesstages, war der Zuschauerraum im Gerichtssaal überfüllt. Viele Überetscher wollten die alles entscheidenden Stunden live miterleben. Staatsanwalt Faustino Dell’Antonio beantragte exemplarische Freiheitsstrafen: 26 Jahre für Albert Seppi, 13 Jahre für Karl Thomaser, 12 Jahre für Rudolf Sölva. Es war dann Luis Sand, der für die Angeklagten die Kohlen aus den Feuer holen sollte. Von dem Auftritt des späteren SVP-Senators war der „Dolomiten“-Berichterstatter sehr angetan und ließ dies seine Leser auch wissen. Ein Auszug aus dem Artikel: „Dann war Advokat Luis Sand an der Reihe. Wenn seitens der Anklage gegen die einheimische Bevölkerung der Vorwurf der Intoleranz erhoben werde, dürfe man nicht vergessen, was dieses Volk in den 20 Jahren übler Regierung mitgemacht habe; Advokat Sand erwähnte ein Beispiel aus seiner eigenen Praxis, da er selbst eine Südtiroler Mutter verteidigte, die man ins Gefängnis schickte, weil sie für ihre drei Kinder eine Gouvernante aufgenommen hatte, die den Kindern die Anfangsgründe des Lesens und Schreibens in ihrer Muttersprache beibringen sollte. Nur zu gerne gehe man bewusst über die vorangegangenen 20 Jahre schweigend hinweg, jenen Zeitabschnitt, in den auch die Jugend der drei Angeklagten fällt, die man zu Unrecht des Mordes bezichtigte. Ein klarer Mord war in diesem Zeitabschnitt, als der Südtiroler Lehrer Franz Innerhofer, der zwei Kinder in Sicherheit bringen wollte, durch Pistolenschüsse aus dem Hinterhalt fiel.

Dem müsse entgegengehalten werden, dass der von Seppi verübte Totschlag, so verabscheuungswürdig die Tat auch sei, die einzige politische Bluttat darstelle, die seit der Zugehörigkeit Südtirols zu Italien seitens eines Südtirolers gegen einen Angehörigen der italienischen Volksgruppe verübt wurde.“ Um 22.20 Uhr erging das im ganzen Land mit großer Spannung erwartete Urteil: Albert Seppi und Karl Thomaser wurden im Sinne der Anklage des Mordes schuldig gesprochen, wobei für beide der erschwerende Umstand des Vorsatzes ausgeschlossen und die allgemeinen Milderungsumstände zugelassen wurden. Albert Seppi wurde zu 14 Jahren „schwerem Kerker“ verurteilt, Karl Thomas zu neun Jahren und vier Monate, wobei sich die Strafen unter Anwendung verschiedener Amnestien und im Wege des Strafnachlasses für Seppi auf fünf Jahre und vier Monate und für Thomaser auf zwei Jahre, zwei Monate und 20 Tage reduzierte. Rudolf Sölva wurde von der Anklage auf Beihilfe zum Mord aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Während die Tageszeitung „Alto Adige“ von einem „milden Urteil“ sprach, ließ die Tageszeitung „Dolomiten“ das Urteil unkommentiert. Im Bericht über den Prozessepilog hieß es: „Als dann der Gerichtshof aus dem Beratungszimmer zurückkehrte, war die allgemeine Stimmung auf das Höchste gestiegen. Das Urteil (…) wurde sowohl von den Angeklagten wie auch vom Publikum ohne äußerlich sichtbare Anteilnahme aufgenommen, allerdings anschließend, als sich der Saal leerte, am Heimweg noch erregt besprochen.“

Die großen Kriminalfälle I

edition AROB

Es war der Krimi-Knüller des Jahres 2005: Im ersten Band der Reihe „Die großen Kriminalfälle” des 20. Jahrhunderts in Südtirol rekonstruiert Artur Oberhofer acht spektakuläre Verbrechen: Vom Bürgermeister-Mord in Kaltern (1946) über die Giftmorde von Klausen und St. Lorenzen in den 1960er-Jahren bis hin zum Aufsehen erregenden Mädchen-Mord von Blumau (Fall Rosa Pichler, 1970).
Krimi-Spannung pur!
Das Buch „Die großen Kriminalfälle” ist bereits in vierter Auflage erschienen und war monatelang in den Südtiroler Bestsellerlisten.

ISBN 88-88396-06-3
Hardcover – 336 Seiten
Preis Italien: 27,00 Euro
Preis Ausland (D-A-CH): 28,00 Euro

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